Warum haben Sie Thomas Mann adaptiert? Eine Umfrage unter Künstler:innen

Umfrage

Warum kehren Kreative unterschiedlichster Disziplinen – von Dramatiker:innen und Choreograf:innen bis hin zu Filmemacher:innen und Romanautor:innen – immer wieder zu Thomas Mann zurück? Zum 150. Geburtstag des Schriftstellers haben Marlene Hartmann (Buddenbrookhaus Lübeck) und Timo Daus (Humboldt-Universität zu Berlin) in einer neuen Umfrage untersucht, was das Werk Thomas Manns so dauerhaft faszinierend, wandlungsfähig und gegenwärtig macht.

 

In diesem Beitrag kommen Künstler:innen selbst zu Wort: Sie erzählen, warum sie sich für eine Adaption oder Neuinterpretation entschieden haben – und zeigen, wie Manns komplexe Figuren, existenzielle Zweifel und zeitlose Fragen immer wieder zu kühnen Neudeutungen auf Bühne, Leinwand und darüber hinaus inspirieren.

Im Jahr seines 150. Geburtstags ist das Erbe Thomas Manns so präsent wie selten zuvor. Die Romane des Literaturnobelpreisträgers zählen nach wie vor zu den meistgelesenen Werken der deutschsprachigen Literatur; seine Haltungen zu Demokratie, Europa und Exil werden täglich in den Feuilletons zitiert. Doch seine Wirkung reicht längst über die Regale der Bibliotheken hinaus: Auf Bühnen, in Filmstudios und Künstlerateliers rund um den Globus bleibt sein Werk lebendig wie kaum ein anderes. Ob Theater, Oper, Ballett, Film oder Graphic Novel – Thomas Mann inspiriert eine neue Generation von Künstler:innen, die seine Geschichten mit heutiger Dringlichkeit neu erzählen.

Um zu verstehen, was gerade heute die besondere Faszination seines Werks ausmacht, haben Marlene Hartmann und Timo Daus Kreative verschiedenster Sparten eingeladen, über ihre persönliche und künstlerische Beziehung zu Thomas Mann nachzudenken: Warum gerade jetzt? Was ist es an seiner Sprache, an seinen Figuren, an seinen Themen, das immer wieder zu neuen Adaptionen herausfordert? Und wie gelingt es, mit Stoffen, die vor über hundert Jahren entstanden, auch ein junges Publikum zu erreichen?

Die hier versammelten Stimmen zeugen von einer tiefen Bewunderung für die stilistische Präzision Manns ebenso wie von einer anhaltenden Faszination für die psychologische Vielschichtigkeit seiner Figuren. Viele der Befragten verweisen auf die ungebrochene Aktualität seiner Auseinandersetzungen mit Zweifel, Identität und existenzieller Angst – Themen, die gerade in Zeiten globaler Krisen neue Dringlichkeit gewinnen. Für sie ist die Beschäftigung mit Thomas Mann weit mehr als eine Hommage: Sie ist der Versuch, die großen Fragen des modernen Lebens auf die Bühne zu bringen – und das Publikum einzuladen, sich in diesem Werk selbst zu begegnen.

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Trailer zur Bühnenadaption von DER ZAUBERBERG am Burgtheater 2023: Regisseur Bastian Kraft inszeniert Hans Castorps surreale Reise durch das Davoser Sanatorium.

Theater: Regisseur:innen und Dramaturg:innen antworten

Die Bühne war von jeher ein Experimentierfeld für Thomas Manns literarische Fantasie. Nach längerer Pause markierte Vera Sturms Adaption von DER ZAUBERBERG beim Reichenau-Festival 2001 einen neuen Auftakt für Mann im Theater. Seither hat der Dramatiker John von Düffel den Mythos widerlegt, Manns Werke seien „unaufführbar“: Mit seiner BUDDENBROOKS-Bearbeitung am Hamburger Thalia Theater 2005 öffnete er die Tür für regelmäßige Inszenierungen von Manns großen Romanen – darunter DER ZAUBERBERG, TOD IN VENEDIG und BEKENNTNISSE DES HOCHSTAPLERS FELIX KRULL – auf den Bühnen des deutschsprachigen Raums.

Es gibt keinen grundlegenderen Roman über die bürgerliche Familie als Thomas Manns BUDDENBROOKS.

Es gibt keinen fundamentaleren Roman über die Wurzel der Religionen und des Religiösen als Thomas Manns JOSEPH UND SEINE BRÜDER.

Es gibt kein klügeres Fragment über die Hochstapelei als Thomas Manns FELIX KRULL.

Deswegen habe ich Thomas Mann für die Bühne adaptiert.

– John von Düffel

Felix Krulls Welt aus Täuschung und Verführung erwacht zum Leben, wenn Marc L. Voglers neue Oper das Excelsior Hotel Ernst in Köln in eine funkelnde Bühne verwandelt – und das Publikum sich mitten unter Manns legendären Hochstapler begibt.

Bild: © HfMT Köln/Christian Nielinger, Quelle www.marc-vogler.de

Oper: Komponist:innen antworten

Auch die Oper hat in Thomas Manns Werk immer wieder neue Impulse gefunden – am eindrucksvollsten wohl in Benjamin Brittens ikonischer Adaption von TOD IN VENEDIG aus dem Jahr 1973, die bis heute als musikalisches Vermächtnis des Komponisten gilt. In jüngerer Zeit haben Komponisten wie Robert Grossmann, Marc L. Vogler und Ludger Vollmer mit eigenen Opernfassungen von DER ZAUBERBERG, FELIX KRULL und BUDDENBROOKS neue Perspektiven auf Manns Romane eröffnet. Beim Davos Festival feierte außerdem Gregory Vajdas ZAUBERBERG seine Uraufführung.

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Viele der Probleme, die vor uns als Menschheit heute massiv aufragen – der Krieg, der Turbokapitalismus, die Stellung von Mann und Frau zueinander, ja selbst die Genderfrage – waren in Manns BUDDENBROOKS bereits angelegt. So dass wir (...) sagen können, (...) dass wesentliche Probleme des 21. Jahrhunderts im 19. Jahrhundert wurzeln – der Krieg in der Ukraine ist ein furchtbares Beispiel dafür.

– Ludger Vollmer

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Trailer zu John Neumeiers eindringlichem Ballett TOD IN VENEDIG, inspiriert von Thomas Manns Novelle: Edvin Revazov verkörpert Gustav von Aschenbach, Caspar Sasse den Tadzio. Zu Musik von Bach und Wagner entfaltet das Hamburg Ballett eine Inszenierung über Obsession, Sehnsucht und den letzten Tanz zwischen Leben und Tod.

Ballett: Choreograf:innen antworten

Im Ballett gilt John Neumeiers TOD IN VENEDIG: EIN TANZ DES TODES längst als Klassiker – eine eindrucksvolle Verbindung von Manns intellektueller Welt mit Musik von Bach und Wagner. Während Manns Novelle die Figuren Aschenbach und Tadzio auf Distanz hält, übersetzt Neumeiers Choreografie ihr Verlangen in bewegte Körper und lässt die Sehnsucht auf der Bühne greifbar werden. Xin Peng Wangs Adaption von DER ZAUBERBERG wiederum widmet sich dem Thema „Zeit“ und ihrer Wirkung auf die menschliche Psyche – eine Reflexion über gesellschaftliche Reaktionen auf Pandemien und ideologische Gräben.

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Ein charmanter Hochstapler steigt in Bernhard Sinkels opulenter Verfilmung von 1981 durch die Gesellschaft der Belle Époque – nach dem Klassiker von Thomas Mann.

Film: Regisseur:innen und Drehbuchautor:innen antworten

Kein Werk von Thomas Mann wurde so häufig für die Leinwand adaptiert wie BEKENNTNISSE DES HOCHSTAPLERS FELIX KRULL. Zu den frühen Umsetzungen zählt Bernhard Sinkels fünfteilige Miniserie von 1981 – entstanden in einer Zeit, als Literaturverfilmungen kaum en vogue waren. Sinkel stellte sich bewusst dieser Herausforderung, fasziniert von Krulls Lust an Maskerade und Selbsterfindung, die sich in seiner Inszenierung als schillerndes Spiel mit Identitäten entfaltet.

Mit der Spionageserie DAVOS 1917 knüpfte Adrian Illien 2023 an Motive aus DER ZAUBERBERG und den BETRACHTUNGEN EINES UNPOLITISCHEN an – und entdeckte in Manns Bild eines Europas am Abgrund verblüffende Parallelen zur Gegenwart. 2024 schließlich wagte André Schäfer mit seinem Biopic BEKENNTNISSE DES THOMAS MANN eine kühne, verspielte Annäherung an das Innenleben des Autors: Mann erscheint hier als androgynes, befreites Wesen, das die in seinen Tagebüchern notierten Sehnsüchte erstmals auslebt.

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Lesen ist ein Akt in schwarz-weiß. Schwarze Buchstaben auf weißem Papier. Die Zeilen dazwischen male ich in meinem Kopf bunt aus. Bei Thomas Mann sind das sehr viele Zeilen. Und sehr viel dazwischen.

Für einen Dokumentarfilmer ist das doppelt spannend. Zumal, wenn der Mann hinter diesen Zeilen so etwas wie das Pin-Up-Girl der Literaturgeschichte ist. 4.000 Fotos – alle gestellt. Alle verstellt?

– André Schäfer

Eine aquarellierte Welt der Besessenheit und des Verfalls - Susanne Kuhlendahl hat Thomas Manns TOD IN VENEDIG als eindringliche Graphic Novel neu interpretiert.

Bild: Kneesebeck

Eine heimliche Liebe prägt ein literarisches Leben: Oliver Fischers MAN KANN DIE LIEBE NICHT STÄRKER ERLEBEN enthüllt die tiefe Verbindung zwischen Thomas Mann und dem Maler Paul Ehrenberg - eine unerzählte Geschichte im Zentrum von Manns Kunst und Identität

Bild: Rowohlt

Die berühmtesten Kinderdetektive der Welt jagen in diesem Jubiläumskrimi ein verschwundenes Thomas-Mann-Manuskript von Rocky Beach bis zum legendären Haus „Seven Palms“.

Bild: Kosmos

Eine zufällige Begegnung in einem Düsseldorfer Hotel weckt alte Leidenschaften und neue Spannungen, als sich die Wege von Thomas Mann, seiner Familie und einer verlorenen Liebe in Hans Pleschinskis geistreichem, stimmungsvollem Roman über das Nachkriegsdeutschland kreuzen.

Bild: C.H. Beck

Inger-Maria Mahlkes „Unsereins“ lässt die vergoldete Vergangenheit Lübecks durch die Augen einer Außenseiterfamilie neu aufleben - ein epischer, generationenübergreifender Roman über Zugehörigkeit, Ausgrenzung und die versteckten Kosten der Ehrbarkeit.

Bild: Rowohlt

Fiktion, Biografie und neue Genres: Autor:innen antworten

Auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller entdecken Thomas Mann immer wieder neu – und auf überraschende Weise. Alain Claude Sulzers DER PERFEKTE KELLNER und Hans Pleschinskis KÖNIGSALLEE greifen Episoden aus Manns Leben und Werk auf – literarisch eigenständig und mit hohem erzählerischem Feingefühl. Inger-Maria Mahlkes UNSEREINS hingegen hinterfragt das mythische Lübeck der BUDDENBROOKS, indem sie Themen wie Antisemitismus und Klassengesellschaft ins Zentrum rückt. Unda Hörner und Stefan Bollmann verorten Mann im größeren Panorama der europäischen Kulturgeschichte, während Thomas Sparr in ZAUBERBERGE die Aktualität seiner zentralen Motive auslotet.

Das Spektrum der jüngsten Werke reicht von Graphic Novels bis hin zu Jugend- und Kriminalliteratur – Autor:innen wie Susanne Kuhlendahl und Marco Sonnleitner erschließen Manns Welt so für neue Leserkreise und Genres.

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Über Timo Daus

Timo Daus analysiert in seinem Dissertationsprojekt an der Humboldt-Universität zu Berlin mit welchen Themen die aktuellen multimedialen Adaptionen von Thomas Manns literarischen Texten in Schauspiel, Oper, Ballett und Film sowie in literarischen und (fiktional-)biografischen Publikationen zum gesellschaftlichen Diskurs der Gegenwart beitragen.

Zuvor war er fast 30 Jahre lang als Partner in Unternehmensberatungen tätig, mit einem Schwerpunkt auf CFO-Organisationen multinationaler Konzerne. Anschließend nahm er ein Studium der „Europäischen Literaturen“ auf, das er mit einer Abschlussarbeit über Thomas Mann und die Demokratie – sein Begriffsverständnis und seine demokratierelevanten Äußerungen in ›Lotte in Weimar‹ beendete.

Über Marlene Hartmann

Marlene Hartmann studierte Germanistik, Anglistik und Romanistik und schloss ihren Master in Literatur und Medien mit einer Arbeit über Céline Sciammas queeres Autorinnenkino ab. Im Buddenbrookhaus absolvierte sie ihr wissenschaftliches Volontariat.

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