Der verführerische Ruf des ZAUBERBERGS
Thomas Manns DER ZAUBERBERG ist in einem Tuberkulose-Sanatorium in den Schweizer Alpen angesiedelt und erzählt die Geschichte von Hans Castorp, der für ursprünglich drei Wochen zu Besuch kommt und sieben Jahre bleibt. Der „Zauberberg“ wird zur schwebenden Welt jenseits des Alltags, ein Ort, an dem die Zeit stillzustehen scheint. Hier entziehen sich die Gäste unter dem Vorwand der Heilung der Verantwortung des Lebens in den „Flachländern“ darunter.
That was the last New Year I'll ever see
And I wanna stay on that magic mountain
With lost souls and beautiful women
Father John Misty: SO I'M GROWING OLD ON MAGIC MOUNTAIN
Father John Misty greift diese verführerische Zeitlosigkeit auf. Er singt von einem Ort, wo „niemand alt ist“, bevölkert von „verlorenen Seelen und schönen Frauen“. Tanz, Alkohol und Sex werden zur Illusion eines ewigen Jungseins. Doch unter der trügerischen Zeitlosigkeit liegt das Wissen um die Vergänglichkeit. Mistys Gesang erhebt sich wie ein stilles Gebet nach einem Entkommen – als könnte das Verweilen auf diesem metaphorischen „Zauberberg“ das Ticken der Uhr stoppen. Musikalisch fängt der Song diese Atmosphäre ein: Hallende Gitarren, subtile Synthesizer und ein weicher Drumbeat schaffen eine ätherische Klanglandschaft, die das Gefühl von Stillstand vermittelt, während die Welt um einen herum verblasst.
Das unvermeidliche Ende
Wie Manns Sanatorium wird Mistys Berg zu einem Ort außerhalb der normalen Ordnung. In der dünnen Höhenluft verdichten sich die großen Fragen des Lebens. Was bei Mann durch philosophische Debatten zwischen den Figuren Settembrini und Naphta verhandelt wird, übersetzt Misty in die Sprache des Pop: Sein Album PURE COMEDY seziert die modernen Strategien der Sinnsuche, von Religion bis Reality-TV. MAGIC MOUNTAIN bildet dabei den intimsten Moment – eine Konfrontation mit der eigenen Zeitlichkeit, die keine Ausflucht mehr zulässt.
Was macht ein Leben bedeutsam? Diese Frage treibt Mistys Song an. „Die letzte Nacht auf der Party des Lebens“ – die Zeile enthält die ganze Spannung zwischen Feier und Vergänglichkeit, zwischen dem Festhalten-Wollen und dem Loslassen-Müssen. Der Erzähler teilt mit Hans Castorp eine fundamentale Erkenntnis: Auch der längste Rausch endet irgendwann.
„Es gibt keine Zukunft hier“ singt er, und in dieser schlichten Zeile verdichtet sich die Erfahrung aller, die je versuchten, sich in einer ewigen Gegenwart einzurichten. Der Zauber des Berges erweist sich als trügerisch, seine vermeintliche Zeitlosigkeit als Illusion.
The longer I stay here
The longer there's no future
Father John Misty: SO I'M GROWING OLD ON MAGIC MOUNTAIN
Was zunächst wie eine Kapitulation klingt, öffnet einen anderen Blick auf das Leben. Gerade im Eingeständnis der Vergänglichkeit liegt die Chance einer neuen Freiheit: Der Abstieg vom Berg wird so zur eigentlichen Initiation – nicht als Niederlage, sondern als Gewinn einer nüchternen Klarheit.
Von Mann zu Misty: Der Zauberberg im digitalen Zeitalter
Künstlerische Zeitreisen gelingen selten so wunderschön wie hier: Father John Misty schlägt mit MAGIC MOUNTAIN einen Bogen über hundert Jahre Kulturgeschichte. Der Song verweist auf Manns ZAUBERBERG, ohne in nostalgischer Referenzialität hängen zu bleiben, und überträgt die ästhetische und existenzielle Dimension des Romans in die digital beschleunigte Gegenwart. Wo Instagram ewige Jugend verspricht und Tik Tok jeden Moment in ‚Pure Comedy‘ verwandelt, erinnert Mistys Song an eine unbequeme Wahrheit: Das Leben gewinnt seine Tiefe gerade durch seine Vergänglichkeit.
In der hypnotischen Klanglandschaft des Songs, zwischen hallenden Gitarren und samtweichen Beats, entfaltet sich diese Erkenntnis nicht als philosophische These, sondern als sinnliche Erfahrung. Misty erschafft einen musikalischen Raum, in dem wir für beinahe zehn Minuten innehalten und über unsere eigene Zeitlichkeit nachdenken können.
Über DER ZAUBERBERG
Angesiedelt in einem Schweizer Lungensanatorium vor dem Ersten Weltkrieg, wurde DER ZAUBERBERG ursprünglich als Novelle geplant – ein heiteres Gegenstück zu Manns Tod in Venedig. Doch daraus entstand einer der großen Romane der klassischen Moderne. Ein kurzer Besuch in einem Davoser Sanatorium wird für den Protagonisten Hans Castorp zu einem siebenjährigen Aufenthalt, bei dem der Kurort zur Bühne für die europäische Befindlichkeit vor dem Ersten Weltkrieg wird.
Der Roman, dessen Entstehung im Juli 1913 begann, wurde während des Krieges durch essayistische Arbeiten – insbesondere die BETRACHTUNGEN EINES UNPOLITISCHEN – unterbrochen und konnte erst 1924 abgeschlossen und veröffentlicht werden. Obwohl er heute als eines von Manns bedeutendsten Werken gilt, wurde er vom Nobelpreis-Komitee 1929 als "zu weitschweifig und zu schwerfällig" abgetan – eine Einschätzung, die heute als historischer Irrtum betrachtet wird. Stattdessen erhielt Mann den Nobelpreis vornehmlich für seinen früheren Roman BUDDENBROOKS (1901), der seinen literarischen Durchbruch markierte.

Über den Autor
Mirko Lux ist Koordinator und Redakteur von MANN 2025: 150 JAHRE THOMAS MANN. Er studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin und Siena. Nach mehreren Jahren als freiberuflicher Journalist und Fotograf ist er seit Mai 2013 als Referent für Programme und Kommunikation im Berliner Büro von Villa Aurora & Thomas Mann Haus tätig.
Bild: © Tobias Kruse/OSTKREUZ
