Der kleine Herr Friedemann – hochaktuell?

Essay

Eine der frühesten Erzählungen des damals noch jungen Autors ist Der kleine Herr Friedemann, 1897 erstmals publiziert und in der Mann-Gemeinde inzwischen mit Besonderheitswert gehandelt: Thomas Mann selbst bezeichnete in einem Vortrag On Myself (1940) die Erzählung vom „kleinen Buckligen“ als seinen literarischen Durchbruch, in der Rezeption wird sie als Entwurf für die zentralen Themen seines Gesamtwerks gelesen. Ganz abgesehen von der Bedeutung für den Autor und sein Lesepublikum ist Manns Werk aber auch ein Spiegel seiner Entstehungszeit und – so zeigt die erneute Lektüre – unserer eigenen Gegenwart.

Der kleine Herr Friedemann erzählt einerseits vom Leiden eines körperlich nicht dem herrschenden Ideal entsprechenden Menschen; und vielleicht, in Mann’scher Manier ‚maskiert‘, auch vom glücklosen Liebeswunsch eines sexuell und romantisch queer Orientierten. Aus heutiger Sicht gesehen, dreht sich andererseits die Erzählung um das Scheitern eines heteronormativ begehrenden Mannes: Avant la lettre ist der Protagonist ein ‚Incel‘; ein ‚unfreiwillig Zölibatärer‘, wie er seit den 2010er-Jahren in den online-Foren und inzwischen in den Büchern der Sozialwissenschaften steht. Sein resignierter Lebensentwurf und das tragische Ende passen ins Programm von Selbstdisziplin, Hoffnungslosigkeit und Selbsthass einer unter diesem Schlagwort versammelten Kohorte von Männern, die ihrerseits unter dem Mangel an (gegen-)geschlechtlichen Beziehungen leiden.

Thomas Manns „Der kleine Herr Friedemann. Novellen.“ Erstausgabe, erschienen bei S. Fischer in Berlin, 1898. 198 Seiten. Original-Kartoneinband, 19 x 11 cm. Illustration von Baptist Scherer.

In der Erzählung begegnen wir dem Prototyp von Thomas Manns schaurig traurigen Antihelden, Johannes Friedemann. Er hat sich nach einer enttäuschten Verliebtheit in der Jugend geschworen, seine romantischen und sexuellen Regungen künftig zu unterdrücken. Den Grund dafür, dass sich das Mädchen seiner Wünsche damals einem anderen Jungen zuwandte, sieht er in seiner Körperbehinderung: Johannes ist klein und bucklig gewachsen. Zwar gönnt er sich als Erwachsener kompensatorisch den Genuss schöner Natur und Kultur, doch bleibt er Zeit seines Lebens einsam, ein Sonderling am Rand der guten Gesellschaft.

Die eigentliche Handlung setzt ein, indem der „kleine Herrn Friedemann“ mit einer Nebenfigur unmittelbar kontrastiert wird, dem „ungewöhnlich großen“ „Großkaufmann Stephens“. Soeben von der Börse kommend, spazieren die beiden entlang der Geschäftsstraße, als mit der Kutsche Gerda von Rinnlingen vorüberfährt und Johannes sich allen Vorsätzen entgegen auf den ersten Blick in sie verguckt. Die Szene bringt Johannes’ Lebensproblem auf den Punkt: Es geht um ‚kleine‘ gegen ‚große‘ (Kauf‑)Männer, die auf dem Marktplatz der Geschlechter um Güter wie Zuneigung, zwischenmenschliche Bestätigung und romantisch-sexuelle Erfüllung konkurrieren.

Genauso funktioniert die erlebte Realität von Menschen, die sich heutzutage selbst als Incels bezeichnen. Sie bewegen sich in einem System von Hierarchien, worin der männliche Zugang zu Frauen einerseits über Dominanz- und Statuskämpfe zwischen Männern reguliert ist, andererseits Frauen die Schuld dafür zukommt, dass die Verteilung weiblicher Zuwendung dabei ungerecht ausfällt. Die ‚Femme fatale‘ aus der Literatur zu Thomas Manns Zeiten heißt im Incel-Jargon ‚Stacy‘, ansonsten bleibt sie das Phantasma der begehrenswerten, unerreichbaren Verderberin.

In Thomas Manns Erzählung ist es Gerda, die Johannes sich zur kalten und grausamen Agentin seines Niedergangs phantasiert. Aus der Schilderung seines subjektiven Erlebens können wir als Lesepublikum die fiktiven Ereignisse rekonstruieren: Vier Tage nach dem ersten Blick auf der Straße treffen sich Johannes und Gerda zufällig in der Opernloge, wo er grußlos die Flucht ergreift. Am Tag darauf macht er ihr, die mit ihrem Ehemann gerade erst neu in die Stadt gezogen ist, für ein Viertelstündchen seine Aufwartung in ihrem Haus. Sie, in der neuen Umgebung noch einsam und von allen Seiten kritisch beäugt, freut sich, in ihm womöglich einen Freund zum gemeinsamen Musizieren zu finden, und lädt ihn zu einem Gesellschaftsabend in der folgenden Woche ein. Zu diesem erscheint er zwar, aber in wortkarger, ungeselliger Laune. Er sondert sich ab, bis sie sich um den verlorenen wirkenden Gast kümmert. Als sie Verständnis für sein Leiden am Anderssein zeigt, wird er körperlich übergriffig: „Plötzlich“, heißt es im Text, wirft er sich vor ihr nieder und drückt ihr sein Gesicht geradewegs „in den Schoß“.

Johannes empfindet die Situation als seine Kapitulation vor ihrer Übermacht, daran lässt der Text keinen Zweifel. Alles jahrelang Unterdrückte bricht aus ihm hervor. Doch wie sollte sie darauf reagieren? – Nach einem Moment des Erstarrens stößt sie den fremden Mann von sich und entflieht mit einem „Lachen“, das er, gedemütigt, als Ausdruck von Spott und Verachtung deutet. Sein Lebenswille ist damit verbraucht, die Erzählung schließt mit seinem Tod im nahegelegenen Fluss. Gerdas Innensicht gibt der Text nicht preis. Was sie zum Lachen veranlasst, mögen wir uns selbst ausmalen: Nervöses Überspielen einer für sie beide peinlichen Situation? Bagatellisierung einer sexuellen Belästigung? Oder tatsächlich Hohn auf einen, mit dem sie vergeblich die Kameraderie gesucht hatte?

Tragisch ist die Geschichte vom „kleinen Buckligen“, weil Gerda Johannes gerade nicht als Behinderten behandelt, den alle anderen „mitleidig“ ausgrenzen, sondern ihm menschlich auf Augenhöhe begegnet. Dass er in ihrer ‚friendzone‘ landet, sie ihm also nicht als potenziellem sexuellen Partner entgegenkommt, kann vielerlei Gründe haben, wovon seine Statur nur einer ist. Ein anderer wäre ihr Status als verheiratete Frau, ein dritter, dass er ihr keine Gelegenheit lässt, ihn überhaupt erst kennen- und schätzenzulernen. Er seinerseits kann ihr Freundschaftsangebot nicht annehmen, weil es ihm misslingt, sie jenseits seiner heteroromantischen Wünsche als menschliches Gegenüber zuzulassen.

Die Idee von idealer Männlichkeit, die Phantasie von fataler Weiblichkeit, die Marktmechanik der zweigeschlechtlich organisierten Gesellschaft und den sozialen Druck auf deren Mitglieder – das alles hat Thomas Mann sich nicht ausgedacht. Sein literarisches Arrangement stellt gesellschaftliche Phänomene aus, die heute, verstärkt und verbreitet durch die digitale Vernetzung, nach wie vor aktuell sind. Johannes Friedemanns Selbstbezogenheit führt in die Selbstzerstörung. Der kleine Herr Friedemann zeigt damit eine traurige Tendenz auch der heutigen Incel-Ideologie. Deren Wurzeln, so lesen wir hier bei Thomas Mann, reichen bis ins vorletzte Jahrhundert zurück.

Über die Autorin

Martina Schönbächler ist Literaturwissenschaftlerin und derzeit zuständig für digitale Projekte und Editionen an den Literaturarchiven der ETH Zürich, zuvor war sie in Klagenfurt Postdoc am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literatur­archiv. Sie forscht zu Autor:innenbibliotheken sowie Schreibprozessen in trans- und posthumanen Kontexten. Schönbächler wirkte an der Digitalisierung von Thomas Manns Nachlassbibliothek mit, in deren Rahmen ihr Buch Splitterpoetologie. Thomas Manns Gerda-Komplex zwischen Bibliothek, Frühwerk und „Joseph in Ägypten“ (Wallstein, 2024) entstand.